Mittwoch, 6. Juni 2012

Schlaflose Erinnerung


Das Feuer prasselte lustig im Kamin, die Flammen zuckten hierhin und auch dorthin, verliehen dem grauen Teppichboden vor sich einen orangenen Abglanz ihres warmen Scheins. Doch, das Grau zog sich noch lange fort, denn der Raum war groß und ganz und gar mit Teppich ausgelegt, was zur Wirkung hatte, das kein klappernder Tritt die Ruhe dieses Refugiums zu stören vermochte. Dieser Ort war dem Betrachter wahrhaftig ein Refugium für das Auge. Keine Elektrizität brummte, krächzte oder flimmerte hier wie anderswo im Hause. Stattdessen standen Kerzen verteilt, mit Abtropfvorrichtungen und derart geschützt, das sie das Papier ringsum nicht zu bedrohen vermochten. Um sie her an jeder Seite standen wandshohe Regale, in zwei und drei Reihen gefüllt und gestapelt mit Büchern. Die einen waren zerrissen, zerfleddert und krank scheinend und andere, die stolz und fast arrogant dem Besucher ihre Titel präsentierten und dabei im Chor riefen: „Nimm mich, lies mich, ich zeige dir die Geschichte auf die du schon immer gewartet hast!“

Ein kleiner Laut von Scharnier, das sich in den Angeln bewegt, von Holz, welches sich beiseite schiebt und der Hauch eines kühlen Luftstroms, der hineinfindet und trifft auf die Hitze des Feuers, das zur Begrüßung kurz aufflackert und weder in sich zusammensinkt, stetig reigend im gewohnten Rhythmus.
Wo vorher noch undefinierbare Lichter tanzten waren nun wieder gewohnte Schatten, die Kerzen und das Feuer als einzige Quellen der Helligkeit sichtbar.
Eingetreten war ein Mann, alt schon und in mancher Bewegung bereits fahrig geworden, es konnte auch vorkommen, das er ein wenig wirr im Kopf erschien, wenn man ihn anschaute und er weit weg zu sein schien. Im Gespräch sprang er auch so manches Mal so schnell von Holz auf Stock und empor zum Ast, das der Zuhörer kaum zu folgen vermochte. Natürlich hieß das nicht über den alten Mann, das er auch wirr war, doch er erschien zunächst einmal so.
Nun ging er langsam, die Schritte nunmehr schleppend und den Blick gesenkt zu einem alten Sessel und ließ sich darauf nieder. Müde schloss er die Augen, nur um sie sogleich furchtsam wieder aufzureißen, die Hände stoben nach oben, bargen sanft das eigene Gesicht.
Leise seufzend schüttelte er den Kopf, jammerte auch ein wenig dabei, ließ dann die Hände wieder sinken und blickte um sich. Dieser Raum, vor langen Jahren einmal nach eigenen Wünschen eingerichtet war sein Stolz, wie das Aufflackern eines Lächelns in den Mundwinkeln und das kindische, jungenhafte Leuchten der Augen verrieten.
Die Bücher ringsum warne die letzten ihm verbliebenen und noch lebenden Freunde, der hölzernde Tisch in liebevoller Handarbeit gefertigt, der Sessel – nun, vielleicht lediglich auf dem Flohmarkt erstanden, doch mittlerweile war auch er nicht mehr nur ein Platz, der zum schmökern, sondenr gleichermaßen zum träumen einlud.
Träumen, das tat der alte Mann fürwahr nicht nur im Schlafe, nein, sein ganzes Leben lang litt er bereits an der wohlgefälligen Krankheit namens Tagträumerei. Ein Leiden, welches man sowohl verfluchte wie auch herzlichst liebte.
Jedoch schien es dem Alten nicht mehr möglich zu sein im Moment zu träumen und dies zu genießen als ein neuerlicher Schatten der gedankenverlorenen Sorge durch sein Auge zog und von da aus Besitz ergriff von Mimik, von Gestik, vom Geiste gleichwohl vom Körper.
Er ahnte nicht, das er dabei beobachtet wurde und das diese wie er Ahnung davon hatten, was ihm so atlasschwer Schulter und Herz niederdrückte.
Der Mann stand wieder auf, hielt inne, schwankte kaum wahrnehmbar und fuhr sich mit der Hand durch das schlohweiße Haar. Diese Bewegung hatte er nun wohl schon oft gemacht, so wie es vom Kopfe stand.
Um der Wahrheit treu zu sein hatte er seit einigen Tagen und Nächten gewacht. Gedanken, der Vergangenheit präsent, der Gegenwart jedoch nicht mehr bekannt gingen ihm pausenlos durch den Kopf. Er hatte etwas vergessen, was er nicht hätte vergessen dürfen.
Vielleicht stand es in einem der Bücher?
Dieser Geistesblitz brachte neue Regung in ihn und er stolperte zum nächsten Regal, ging daran entlang, fuhr mit dem Finger über die einzelnen Einbände der ersten Reihe. Bei manch einem verweilte er und ein Lächeln, welches die Mundwinkel umspielte, verrieten eine schöne Erinnerung. So manches Mal hob er das jeweilige Buch auch stürmisch wie eine Geliebte vom Regalbrett, wirbelte die Seiten wie im Tanze herum und bewegte die Lippen zur vertrauten Melodie des Wortes.
Ein anderes Mal griff er nun behutsam zu, streichelte erst noch ein- oder zweimal über den Einband mit flacher Hand eher er es zögerlich aufschlug, dabei es sanft gebettet hatte in Hand und Arm, dann das Papier liebkoste wie ein krankes Kind und aus den Augen sprach die Liebe wie zu ebendiesem.
Was ihn beobachtete mit Argusaugen, jede Bewegung registrierend, es hielt sich versteckt. Hielt den Moment, sich zu zeigen noch nicht für gekommen.
So ging es dann weiter, Schritt für Schritt, Buch um Buch. Mal aus der ersten, mal aus der dritten Reihe und mal lag es obenauf gestapelt. Mit jedem Griff wurde die Suche fiebriger, er war auf der richtigen Spur, der alte Mann wusste es ganz genau, nur was sich ihm am Ende enthüllen würde – das allein entzog sich seiner Kenntnis.
Neugier, du süße Sünde, wer kann dir eigentlich nicht verfallen?
Regal um Regal, Buch um Buch, bis zum letzten näher heran, ganz nah, es war alt und unscheinbar ganz wie er selbst. Hatten sich an einem anderen Tage bereits gefunden gehabt.
Dann war er da. Erkennen durchzuckte sein Antlitz. Er streckte die Hand nach dem braunen Einband aus, aber die Finger krümmten sich im letzten Moment, eine Faust bildete sich. Erstickte auch die Neugier im Herzen mit klammen Griff, entsandte an ihre Stelle Wellen der Furcht.
Der Mann wandte sich ab von diesem Buch, wollte es nicht haben und konnte sich doch nicht, niemals davon trennen.
Er öffnete die Augen wieder, hatte gar nicht gemerkt, das er sie fest zusammengekniffen hatte. Vor seinem Blickfeld tanzten einige kleine Lichtwesen, gaben sich ihm erstmals zu erkennen. Eine Weile waren sie schon dagewesen, wenngleich nicht so lange, das man von einer Sesshaftigkeit sprechen konnte, aber doch schon so lang, das sie wussten, was sich in diesem Einband verbarg.
Der alte Mann lächelte wehmütig. Es musste nichts gesagt werden, er konnte diesem Buch nicht länger entkommen.
Also wandte er sich um, griff erneut zu und zögerte diesmal nicht.
„Mit Verlaub, ich möchte mich dazu gerne setzen.“, sprach er zu den Lichtwesen und deutete dabei eine leichte Verbeugung an.
Es kam keine Antwort, doch das war ihm von vorneherein klar gewesen.
Er setzte sich in seinen Sessel, bemerkte am Rande, dass das Feuer nur noch glomm und lediglich eine Kerze – die aber in seiner Nähe – noch brannte.
Zaghaft wie ein kleines Kind hob er den an den Ecken vom vielen Gebrauch verwetzten Einband an, holte noch einmal Luft und schlug es dann ganz auf. Zum Vorschein kamen zwei Dinge: ein altes und vergilbtes Foto und ein Brief.
Oft hatte man diesen auseinander und wieder zusammengefaltet.
Ein kurzer Blick auf das Foto, ein Seufzer dünn und zittrig gar, dann das Rascheln von Papier, auseinandergefaltet von Händen, die müde und erschöpft waren.
Die Erinnerung an das, worauf man gewartet hatte.
Nicht sicher wissend, ob die Lichtwesen um ihn herum überhaupt über ein Gehör verfügten begann er ganz leise zu erzählen.
„Auf dem Foto sind wir als kleine Kinder. Es ist die einzige visuelle Erinnerung, die ich an uns habe. Sie ist die Frau, die ich später zu lieben lernte. Ich wollte es ihr sagen, wir waren an diesem wunderschönen Tag wie so oft miteinander verabredet. Wir unterhielten uns lange wie wir um den See liefen, dabei Eis aßen oder nur die Enten beobachteten, doch gleich welchen Faden wir verfolgten, ich brachte den Mut nicht auf, ihr zu gestehen, was ich für sie empfand. Lieber noch betrachtete ich ihr hübsches Gesicht, das so schön strahlte, wenn sie sich mir zuwandte. Wir redeten so allerhand und lachten auch viel dabei bis sie mit einen Male ganz traurig ward dabei.
'Was ist?', fragte ich rasch und fasste sie sanft am Arm und sie schüttelte den Kopf.
'Es ist so … mein Vater hat eine neue Stelle, besser bezahlt. Wir werden umziehen.'
Mühsam schluckte ich, versuchte mir nichts anmerken zu lassen von der Trauer, die sich gleich einer dunklen Regenwolke unmessbaren Ausmaßes über mein Herz ergoss – oder dem, was davon noch übrig war.
'Was solls', lächelte ich. 'Verbringen wir noch eine schöne Zeit mitein-'
'Wir fahren morgen schon.'
'Aber ich liebe dich!'
Da war es raus, unaufhaltsam über meine Lippen gebrochen, so nötig wie auszuatmen und stießen dabei auch den letzten Widerstand für ihre Tränen beiseite.
'Ich dich doch auch!', schluchze sie, meine Jugendfreundin.
Danach redeten wir noch bis weit nach der Abenddämmerung, schmiedeten Pläne für die Zeit, wenn wir zusammen sein konnten. Wir würden es schaffen, darin waren wir uns absolut sicher.
An der Türe ihres Elternhauses eine letzte Umarmung, ein schüchterner Kuss. Lippen, die sanft über die des anderen strichen, welch Moment des Schauers, so vergänglich wie der Moment und so resistent gegenüber jedem Vergessens.
Der Augenblick verstrich nach einer gefühlten Ewigkeit, die ja doch nicht ausreichte.
'Irgendwo steht gewiss unsere Geschichte geschrieben zum Ausgleich, das wir es nicht gelebt haben.', wisperte sie.
'Wir werden sie schreiben.', versprach ich, wissend, das es schwer werden würde, dieses Versprechen zu halten.
Dann kam der Krieg und ich wurde eingezogen. Als ich wieder in der Heimat war konnte ich sie nirgends mehr finden.
Erst viele Jahre später kam sie mir wieder unter die Augen, mittlerweile war sie verheiratet und hatte zwei hübsche Kinder. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem ich ihr gelobte diese Geschichte zu finden … doch ich wagte es nicht ihn abzuschicken.
So blieb er bei mir, wie auch das Foto und meine Suche.“
Der Alte pausierte und sein Blick schweifte über die Vielzahl der Bücher.
„So viele Bücher mit den einzelnen Schicksalen darin, an denen ich teilhaben konnte. Aber unsere war nicht dabei. Unsere steht nur hier in diesem Brief, in den Notizen, die in diesem Buch stehen.“
~Dann schließ das Buch.~
Der Mann blickte zu den Lichtwesen als ihre Fispelstimme erklang.
Schloss dann das Buch.
~Dein Leben, die Geschichte, die du zu erzählen hattest, die Quintessenz, das war es nun. Es ist genug hier.~
Der Mann verstand in einem letzten Atemzug.
Es gab keinen Grund mehr zur Sorge, zur Suche oder zu schlaflosen Nächten. Es war endlich alles am Ende und gut.

© Kimira

Donnerstag, 15. März 2012

Staubmäuse fixiert von der Staubkatze

Lange genug hatte sie gewartet ohne einen Mucks von sich zu geben. Eingesperrt im dunklen Verließ, sich selbst überlassen, zuschauend wie Dampfmacher und Heißbrett bisweilen auszogen um Schlachten zu führen gegen baumwollenes und seidenes Gewäsch. Und wenn sie wieder da waren erzählten sie von großartigen Heldentaten, die sie begangen hatten draußen in der unwirklichen Welt. Wie seltsame zweibeinige Wesen sie geführt hätten, sie hätten zermalmen lassen das Ungetier. 
Doch heute, endlich, sollte die Staubkatze wieder ihre Krallen ausfahren können als ebenjener bereits angesprochener Zweibeiner sie aus der eintönigen Landschaft entriss. Als er sie wieder abstellte blickte sie verstohlen nach links und rechts und grinste leicht, hatte sie sie doch bereits erblickt, die garstigen Staubmäuse, deren erbitterster Erzfeind sie war. Und, welch ein Wonne, dies war genug um sich für mehrere Tage wieder den Magen vollzuschlagen. Lauernd wartete sie ab, noch ein Moment, vielleicht zwei, den Gegner in Sicherheit wiegen, ihn jedoch nicht aus den Augen lassend. Ha, noch sollten sie nichts von ihrem Schicksal wissen, die elendigen Mäuseriche, denen der Staub schon aus den Ohren quoll, wie sie dalagen und sich rund und satt fraßen an Teppich und vergessenen Büchern in der hintersten Ecke. Wie sie gemählich rollten in jede Fuge, jede Kerbe, jede undichte Stelle und sich weigerten auch nur einen Millimeter zu weichen. Trollen sollten sie sich, allemal. Erwartungsvoll schlug die Staubkatze mit dem Schwanz, vorsichtig genug jedoch, um die Drohung unausgesprochen im Raum verbleibend zu lassen. Noch ein letztes Zucken mit ihrem langen Schwanz, den Antrieb findend, die Balance für den mörderischen Akt. Da war er endlich und die Staubkatze fuhr ihre Krallen aus, setzte sich in Bewegung, öffnete ihren Mund und ohne sich groß mit dem Kauen aufzuhalten oder Mitleid für das raschelnde Quieken der Staubmäuse zu empfinden saugte sie eine nach der anderen in ihren riesigen Magen. Keine sollte unentdeckt bleiben, der Teppich erstrahlte in neuem Glanz, die Bücher wurden nur kurz touchiert, als das sie keinen Schaden nehmen würden, doch frei wären vom immer wiederkehrenden Keim des Bösen, die hinterste Ecke, ein sicheres Versteck? Aber doch nicht gegen die Staubkatze, nein, vor ihr sollte nichts sicher sein, nichts unentdeckt bleiben. 
Kurz währte die Jagd, das Rascheln erstarb und die Staubkatze ruhte wieder in ihrem vermeintlichen Schlummer. Aus den Augenwinkeln erspähte sie bereits kleine Staubmäuse, neugeboren erst und noch zu zart und klein als das sie eine schmackhafte Beute währen. "Aber was nicht ist kann ja noch werden", dachte die Staubkatze bei sich und leckte bereits genussvoll ihre Lippen. Ein wenig überfressen hatte sie sich ja schon, was ihr ein leichtes Unwohlsein im Magen verriet, aber zum Glück hatte sie einen Zweibeiner, der willens war sich auch um solche Unpässlichkeiten zu kümmern. Kurzerhand entfernte er ihren Magen, kippte einen bereits verdauten Teil der Beute weg und legte ihn dann, mit ein paar nahrhaften Resten natürlich wieder in sie hinein. Der Eingriff war kurz und relativ schmerzlos verlaufen, zudem ohnehin bereits eine Routine für die alte Dame. Man brachte sie wieder zurück zu ihren Freunden, dem Gewäschshänger, dem Dampfmacher und dem Heißbrett und nun war sie an der Reihe von ihren heldenhaften Taten zu berichten.
© Kimira

Sonntag, 4. März 2012

Gedankenreise im Herbst

Es begab sich dereinst im letzten Herbst, die Blätter färbten sich gerade golden, das Ruth die rote Plastikrose in ihrem Zimmer fand, die ihr Stephen ihr geschenkt hatte. Lange saß sie auf ihrem Bett und ging in Gedanken auf eine Reise in die Vergangenheit. Wie lange war es her? Wohl ein Jahr, damals war es auch Herbst gewesen, das sie ihn zuletzt gesehen hat. Sie hatten sich im Riesenrad auf dem Jahrmarkt kennengelernt und sind danach oft miteinander ausgegangen. Wie lange waren sie zusammen gewesen, wie lange hatte es gedauert bis zu jenem schicksalhaften Tag? Wohl nur ein halbes Jahr, eine kurze Zeitspanne vielleicht, aber es waren Momente des Glücks gewesen. Aber ach, was musste geschehen um sie daran zu erinnern, das nicht jedes Glück ewig währt? Ruth hatte ihren Geldbeutel an der S-Bahn-Haltestelle verloren und Stephen bot sich an ihn für sie zu holen. "Ich laufe doch eh viel schneller als du", hatte er mit einem Zwinkern gemeint und war losgelaufen. Es war noch kalt gewesen, Winter, es lag Schnee und war glatt. Der Fahrer des Autos an der Kreuzung hatte doch noch versucht auszuweichen, doch keine Chance. Stephen verstarb noch am Unfallort in Ruths Armen. Sie war unfähig gewesen über ihr Handy den Notarzt zu rufen.

In diesem Fall hatte ich nur einige Wörter vorgegeben und die Geschichte musste sich um ebendiese Wörter herum entwickeln. Ich würde auch echte Rosen vorziehen. ;)

© Kimira 
 

Die Maske vor der Schwester

Das knarzende Geräusch der Rolltreppe war kaum noch zu ertragen. Es war eine Frage der Zeit, wann sie ihren Geist aufgeben würde. Es waren noch fünf Stunden bis Feuerabend. Sie freute sich auf das Essen mit ihm. `Platsch´ machte es. Vor ihren Füßen lag eine aufgeplatzte Tasche. Mitten in diesem kleinen Chaos lag ein Foto, teilweise bedeckt von Münzen. Sie traute ihren Augen nicht.

War das denn nicht Jonas? Ein Passbild, klein und biometrisch gemacht, wie es den gesetzlichen Anforderungen entsprach, aber es ging Lizbeth nicht um die Machart des Fotos, sonder darum, was es in einer fremden Damenhandtasche zu suchen hatte. Mit großen Augen schaute sie zu der fremden Frau hinab, die eiligst den Inhalt wieder einräumte und von ihrer Fassungslosigkeit gar keine Notiz nahm. Normalerweise hätte Lizbeth ihr geholfen, das war geradezu eine Selbstverständlichkeit für sie. Jetzt konnte sie nur dastehen, das Knarzen der Rolltreppe war zu einem Dröhnen in ihren Ohren geworden, vibrierte hart in ihrem Trommelfell, schlich sich ein in ihren Kopf, brachte die Synapsen in ihren Gedanken ganz und gar durcheinander. Wurde sie denn bereits betrogen? Die junge Frau schaute der Anderen hinterher, die ohne ein Wort zu sagen oder sie überhaupt eines Blickes zu würdigen von dannen geschritten war. Gut sah sie ja aus, mit ihrem langen schwarzen Haar, dem Wollkleid, das bis an die Knie reichte, der blickdichten Strumpfhose und den Pömps. Ach, das Haar war doch bestimmt gefärbt, das Kleid ganz fusselig, die ersten Laufmaschen würden sich bald ergeben oder der Absatz würde brechen, wer weiß? Und wen kümmerte es? Tatsache war doch, sie hatte ein Foto von ihrem Freund gehabt und Lizbeth wollte heute Abend mit Jonas aus essen gehen. Wollte er sie so etwa abspeisen, im wahrsten Sinne des Wortes? Meinte er ein wenig Kerzenschein hier, ein wenig Spaghetti da und dort vielleicht noch ein Glas Rotwein und schon wäre sie, Lizbeth, gnädig genug gestimmt ihm zu verzeihen, das sie leider nicht mehr seine Nummer 1 wäre und im Zuge dessen doch bitte die gemeinsame Wohnung räumen dürfe. Bitter lachte Lizbeth über diesen Gedanken, nein, so würde es nicht kommen, nicht nach fünf Jahren, nicht nach all den Höhen und Tiefen erst des Schulalltags und jetzt der Ausbildung. Die Zeit verging, die angehende Kauffrau im Einzelhandel versuchte so gut es ging sich von den düsteren Gedanken abzulenken, was ihr dank ihres Berufes auch recht leicht fiel. Und endlich kam er, der für alle erlösende Schlag zum Feierabend. Lizbeth zog ihren Mantel an, überprüfte mit einem kurzen Blick in den Spiegel ihr Äußeres - unnötig sich darüber Sorgen zu machen, denn sie war eine bildhübsche Frau, wie viele fanden - und trat über den Personaleingang ins Freie. Was sie nun sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: Jonas und die Fremde, miteinander scherzend, lehnten an der gegenüberliegenden Mauer. Hastig schluckte Lizbeth den Kloß, der ihr in der Kehle brannte hinunter und stapfte zu den beiden hinüber. War ihr Gesichtsausdruck auch nicht zu trotzig? Wen interessierte das denn noch? Jonas ging lächelnd auf sie zu, umarmte sie kurz und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. "Schatz, darf ich dir meine Schwester vorstellen? Also nicht wirklich Schwester, aber wir kennen uns von klein auf und waren stets so unzertrennlich wie eben Geschister!" Lizbeth und die `Schwester´, die Norah hieß machten sich miteinander bekannt. Doch die Tränen in den Augenwinkeln versiegten nicht, das Herz in Lizbeths Brust kannte die Antwort schon, zu bekannt das Gefühl des betrogen worden seins. Und sie setzte die Maske auf und spielte mit.

Der kursiv geschriebene Teil war vorgegeben, den Rest musste man sich dazu ausdenken. Ich denke, ich habe es gut gemacht.

© Kimira