Das Feuer prasselte
lustig im Kamin, die Flammen zuckten hierhin und auch dorthin,
verliehen dem grauen Teppichboden vor sich einen orangenen Abglanz
ihres warmen Scheins. Doch, das Grau zog sich noch lange fort, denn
der Raum war groß und ganz und gar mit Teppich ausgelegt, was zur
Wirkung hatte, das kein klappernder Tritt die Ruhe dieses Refugiums
zu stören vermochte. Dieser Ort war dem Betrachter wahrhaftig ein
Refugium für das Auge. Keine Elektrizität brummte, krächzte oder
flimmerte hier wie anderswo im Hause. Stattdessen standen Kerzen
verteilt, mit Abtropfvorrichtungen und derart geschützt, das sie das
Papier ringsum nicht zu bedrohen vermochten. Um sie her an jeder
Seite standen wandshohe Regale, in zwei und drei Reihen gefüllt und
gestapelt mit Büchern. Die einen waren zerrissen, zerfleddert und
krank scheinend und andere, die stolz und fast arrogant dem Besucher
ihre Titel präsentierten und dabei im Chor riefen: „Nimm mich,
lies mich, ich zeige dir die Geschichte auf die du schon immer
gewartet hast!“
Ein kleiner Laut von
Scharnier, das sich in den Angeln bewegt, von Holz, welches sich
beiseite schiebt und der Hauch eines kühlen Luftstroms, der
hineinfindet und trifft auf die Hitze des Feuers, das zur Begrüßung
kurz aufflackert und weder in sich zusammensinkt, stetig reigend im
gewohnten Rhythmus.
Wo vorher noch
undefinierbare Lichter tanzten waren nun wieder gewohnte Schatten,
die Kerzen und das Feuer als einzige Quellen der Helligkeit sichtbar.
Eingetreten war ein Mann,
alt schon und in mancher Bewegung bereits fahrig geworden, es konnte
auch vorkommen, das er ein wenig wirr im Kopf erschien, wenn man ihn
anschaute und er weit weg zu sein schien. Im Gespräch sprang er auch
so manches Mal so schnell von Holz auf Stock und empor zum Ast, das
der Zuhörer kaum zu folgen vermochte. Natürlich hieß das nicht
über den alten Mann, das er auch wirr war, doch er erschien zunächst
einmal so.
Nun ging er langsam, die
Schritte nunmehr schleppend und den Blick gesenkt zu einem alten
Sessel und ließ sich darauf nieder. Müde schloss er die Augen, nur
um sie sogleich furchtsam wieder aufzureißen, die Hände stoben nach
oben, bargen sanft das eigene Gesicht.
Leise seufzend schüttelte
er den Kopf, jammerte auch ein wenig dabei, ließ dann die Hände
wieder sinken und blickte um sich. Dieser Raum, vor langen Jahren
einmal nach eigenen Wünschen eingerichtet war sein Stolz, wie das
Aufflackern eines Lächelns in den Mundwinkeln und das kindische,
jungenhafte Leuchten der Augen verrieten.
Die Bücher ringsum warne
die letzten ihm verbliebenen und noch lebenden Freunde, der hölzernde
Tisch in liebevoller Handarbeit gefertigt, der Sessel – nun,
vielleicht lediglich auf dem Flohmarkt erstanden, doch mittlerweile
war auch er nicht mehr nur ein Platz, der zum schmökern, sondenr
gleichermaßen zum träumen einlud.
Träumen, das tat der
alte Mann fürwahr nicht nur im Schlafe, nein, sein ganzes Leben lang
litt er bereits an der wohlgefälligen Krankheit namens Tagträumerei.
Ein Leiden, welches man sowohl verfluchte wie auch herzlichst liebte.
Jedoch schien es dem
Alten nicht mehr möglich zu sein im Moment zu träumen und dies zu
genießen als ein neuerlicher Schatten der gedankenverlorenen Sorge
durch sein Auge zog und von da aus Besitz ergriff von Mimik, von
Gestik, vom Geiste gleichwohl vom Körper.
Er ahnte nicht, das er
dabei beobachtet wurde und das diese wie er Ahnung davon hatten, was
ihm so atlasschwer Schulter und Herz niederdrückte.
Der Mann stand wieder
auf, hielt inne, schwankte kaum wahrnehmbar und fuhr sich mit der
Hand durch das schlohweiße Haar. Diese Bewegung hatte er nun wohl
schon oft gemacht, so wie es vom Kopfe stand.
Um der Wahrheit treu zu
sein hatte er seit einigen Tagen und Nächten gewacht. Gedanken, der
Vergangenheit präsent, der Gegenwart jedoch nicht mehr bekannt
gingen ihm pausenlos durch den Kopf. Er hatte etwas vergessen, was er
nicht hätte vergessen dürfen.
Vielleicht stand es in
einem der Bücher?
Dieser Geistesblitz
brachte neue Regung in ihn und er stolperte zum nächsten Regal, ging
daran entlang, fuhr mit dem Finger über die einzelnen Einbände der
ersten Reihe. Bei manch einem verweilte er und ein Lächeln, welches
die Mundwinkel umspielte, verrieten eine schöne Erinnerung. So
manches Mal hob er das jeweilige Buch auch stürmisch wie eine
Geliebte vom Regalbrett, wirbelte die Seiten wie im Tanze herum und
bewegte die Lippen zur vertrauten Melodie des Wortes.
Ein anderes Mal griff er
nun behutsam zu, streichelte erst noch ein- oder zweimal über den
Einband mit flacher Hand eher er es zögerlich aufschlug, dabei es
sanft gebettet hatte in Hand und Arm, dann das Papier liebkoste wie
ein krankes Kind und aus den Augen sprach die Liebe wie zu
ebendiesem.
Was ihn beobachtete mit
Argusaugen, jede Bewegung registrierend, es hielt sich versteckt.
Hielt den Moment, sich zu zeigen noch nicht für gekommen.
So ging es dann weiter,
Schritt für Schritt, Buch um Buch. Mal aus der ersten, mal aus der
dritten Reihe und mal lag es obenauf gestapelt. Mit jedem Griff wurde
die Suche fiebriger, er war auf der richtigen Spur, der alte Mann
wusste es ganz genau, nur was sich ihm am Ende enthüllen würde –
das allein entzog sich seiner Kenntnis.
Neugier, du süße Sünde,
wer kann dir eigentlich nicht verfallen?
Regal um Regal, Buch um
Buch, bis zum letzten näher heran, ganz nah, es war alt und
unscheinbar ganz wie er selbst. Hatten sich an einem anderen Tage
bereits gefunden gehabt.
Dann war er da. Erkennen
durchzuckte sein Antlitz. Er streckte die Hand nach dem braunen
Einband aus, aber die Finger krümmten sich im letzten Moment, eine
Faust bildete sich. Erstickte auch die Neugier im Herzen mit klammen
Griff, entsandte an ihre Stelle Wellen der Furcht.
Der Mann wandte sich ab
von diesem Buch, wollte es nicht haben und konnte sich doch nicht,
niemals davon trennen.
Er öffnete die Augen
wieder, hatte gar nicht gemerkt, das er sie fest zusammengekniffen
hatte. Vor seinem Blickfeld tanzten einige kleine Lichtwesen, gaben
sich ihm erstmals zu erkennen. Eine Weile waren sie schon dagewesen,
wenngleich nicht so lange, das man von einer Sesshaftigkeit sprechen
konnte, aber doch schon so lang, das sie wussten, was sich in diesem
Einband verbarg.
Der alte Mann lächelte
wehmütig. Es musste nichts gesagt werden, er konnte diesem Buch
nicht länger entkommen.
Also wandte er sich um,
griff erneut zu und zögerte diesmal nicht.
„Mit Verlaub, ich
möchte mich dazu gerne setzen.“, sprach er zu den Lichtwesen und
deutete dabei eine leichte Verbeugung an.
Es kam keine Antwort,
doch das war ihm von vorneherein klar gewesen.
Er setzte sich in seinen
Sessel, bemerkte am Rande, dass das Feuer nur noch glomm und
lediglich eine Kerze – die aber in seiner Nähe – noch brannte.
Zaghaft wie ein kleines
Kind hob er den an den Ecken vom vielen Gebrauch verwetzten Einband
an, holte noch einmal Luft und schlug es dann ganz auf. Zum Vorschein
kamen zwei Dinge: ein altes und vergilbtes Foto und ein Brief.
Oft hatte man diesen
auseinander und wieder zusammengefaltet.
Ein kurzer Blick auf das
Foto, ein Seufzer dünn und zittrig gar, dann das Rascheln von
Papier, auseinandergefaltet von Händen, die müde und erschöpft
waren.
Die Erinnerung an das,
worauf man gewartet hatte.
Nicht sicher wissend, ob
die Lichtwesen um ihn herum überhaupt über ein Gehör verfügten
begann er ganz leise zu erzählen.
„Auf dem Foto sind wir
als kleine Kinder. Es ist die einzige visuelle Erinnerung, die ich an
uns habe. Sie ist die Frau, die ich später zu lieben lernte. Ich
wollte es ihr sagen, wir waren an diesem wunderschönen Tag wie so
oft miteinander verabredet. Wir unterhielten uns lange wie wir um den
See liefen, dabei Eis aßen oder nur die Enten beobachteten, doch
gleich welchen Faden wir verfolgten, ich brachte den Mut nicht auf,
ihr zu gestehen, was ich für sie empfand. Lieber noch betrachtete
ich ihr hübsches Gesicht, das so schön strahlte, wenn sie sich mir
zuwandte. Wir redeten so allerhand und lachten auch viel dabei bis
sie mit einen Male ganz traurig ward dabei.
'Was ist?', fragte ich
rasch und fasste sie sanft am Arm und sie schüttelte den Kopf.
'Es ist so … mein Vater
hat eine neue Stelle, besser bezahlt. Wir werden umziehen.'
Mühsam schluckte ich,
versuchte mir nichts anmerken zu lassen von der Trauer, die sich
gleich einer dunklen Regenwolke unmessbaren Ausmaßes über mein Herz
ergoss – oder dem, was davon noch übrig war.
'Was solls', lächelte
ich. 'Verbringen wir noch eine schöne Zeit mitein-'
'Wir fahren morgen
schon.'
'Aber ich liebe dich!'
Da war es raus,
unaufhaltsam über meine Lippen gebrochen, so nötig wie auszuatmen
und stießen dabei auch den letzten Widerstand für ihre Tränen
beiseite.
'Ich dich doch auch!',
schluchze sie, meine Jugendfreundin.
Danach redeten wir noch
bis weit nach der Abenddämmerung, schmiedeten Pläne für die Zeit,
wenn wir zusammen sein konnten. Wir würden es schaffen, darin waren
wir uns absolut sicher.
An der Türe ihres
Elternhauses eine letzte Umarmung, ein schüchterner Kuss. Lippen,
die sanft über die des anderen strichen, welch Moment des Schauers,
so vergänglich wie der Moment und so resistent gegenüber jedem
Vergessens.
Der Augenblick verstrich
nach einer gefühlten Ewigkeit, die ja doch nicht ausreichte.
'Irgendwo steht gewiss
unsere Geschichte geschrieben zum Ausgleich, das wir es nicht gelebt
haben.', wisperte sie.
'Wir werden sie
schreiben.', versprach ich, wissend, das es schwer werden würde,
dieses Versprechen zu halten.
Dann kam der Krieg und
ich wurde eingezogen. Als ich wieder in der Heimat war konnte ich sie
nirgends mehr finden.
Erst viele Jahre später
kam sie mir wieder unter die Augen, mittlerweile war sie verheiratet
und hatte zwei hübsche Kinder. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem
ich ihr gelobte diese Geschichte zu finden … doch ich wagte es
nicht ihn abzuschicken.
So blieb er bei mir, wie
auch das Foto und meine Suche.“
Der Alte pausierte und
sein Blick schweifte über die Vielzahl der Bücher.
„So viele Bücher mit
den einzelnen Schicksalen darin, an denen ich teilhaben konnte. Aber
unsere war nicht dabei. Unsere steht nur hier in diesem Brief, in den
Notizen, die in diesem Buch stehen.“
~Dann schließ das Buch.~
Der Mann blickte zu den
Lichtwesen als ihre Fispelstimme erklang.
Schloss dann das Buch.
~Dein Leben, die
Geschichte, die du zu erzählen hattest, die Quintessenz, das war es
nun. Es ist genug hier.~
Der Mann verstand in
einem letzten Atemzug.
Es gab keinen Grund mehr
zur Sorge, zur Suche oder zu schlaflosen Nächten. Es war endlich
alles am Ende und gut.
© Kimira